Ronald Reimann vom Projekt akinda – Berliner Netzwerk Einzelvormundschaft bei XENION berichtet im Tagesspiegel-Artikel „Afghanistan, Syrien, Benin, Ukraine – Es kommen mehr junge Flüchtlinge ohne Eltern nach Berlin“ über die überstrapazierten Aufnahmestrukturen für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Berlin. Hier ein paar Auszüge aus dem lesenswerten Beitrag von Annette Kögel:

Afghanistan, Syrien, Benin, Ukraine – Es kommen mehr junge Flüchtlinge ohne Eltern nach Berlin

In Berlin nimmt die Zahl der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge zu. Es kommen immer mehr Mädchen, oft berichten sie von Gewalterfahrungen.

Wenn Eltern in Berlin ihr Kinder für ein paar Tage Klassenfahrt oder Ferienlager verabschieden, fließen oft Tränen. Die Sehnsucht ist riesengroß, dabei sind Sohn oder Tochter meist nur wenige Stunden entfernt und man selbst wäre zur Not sofort da, falls etwas passiert. Wie muss es erst Eltern ergehen, die sich wegen Kriegs, Terrors und Krise nicht anders zu helfen wissen, als ihr Kind auf eine teils jahre- oder monatelange lebensgefährliche Flucht zu geben.

Wenn der Sohn oder die Tochter in Berlin ankommen, sind sie ein „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“. Kontakt nach Hause gibt es teils jahrelang – oder für immer – nur noch über WhatsApp und Video-Telefonate. Viele der jungen Menschen sehnen sich hier dann nach einer vertrauten Person, die nach der Flucht Sicherheit, Halt und Zukunftsperspektive geben kann: einen Schulplatz suchen, bei Arztbesuchen begleiten, die ersten Worte Deutsch beibringen, Berlin erklären, das Asylverfahren einleiten.

Ehrenamtlich Helfende werde gebraucht
In Berlin haben schon hunderte ehrenamtliche Vormünder diese herausfordernde, aber oft erfüllende Aufgabe mit gesellschaftlichem Mehrwert geleistet – neue Interessent:innen werden dringend gesucht. „Akinda“, das Berliner Netzwerk Einzelvormundschaften für unbegleitete minderjährige Geflüchtete, bietet wieder neue unentgeltliche Lehrgänge an.

Ronald Reimann, Projektleiter von „Akinda“ beim Verein „XENION e.V.“, erklärt den Ablauf: Zunächst werden in einem telefonischen Vorgespräch bürokratische Vorgänge und Fragen zum Kinderschutz geklärt. Danach gebe es eine Schulung. Die Ehrenamtlichen müssen zudem ein erweitertes Führungszeugnis der Polizei vorlegen. Wichtig sind Einfühlungsvermögen, Verantwortungsbewusstsein, Verlässlichkeit und Durchhaltebereitschaft. Denn die Vormünder sind statt der leiblichen Eltern gesetzliche Vertreter für die Kinder.

1860 junge Menschen ohne die Eltern seit Jahresbeginn
Angesichts der stark steigenden Zahlen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) haben Helfer:innen und Behörden viel zu tun. Nach Auskunft der Senatsjugendverwaltung erreichten Ende August im Schnitt 15 Jugendliche Berlin, im Juli waren es noch sieben bis acht, dann bereits zehn. „Seit Jahresbeginn 2023 machen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Afghanistan den größten Anteil der Erstmeldungen aus, gefolgt von den angegebenen Herkunftsländern Syrien, Benin, Ukraine und Türkei“, sagt Susanne Gonswa, Sprecherin für Jugend und Familie.

Das bisherige Rekordjahr bei den UMF-Ankünften in Berlin war 2015 mit 4252 Erstanmeldungen, 2016 folgten weitere 1381 Kinder und Jugendlichen. Ohne die Eltern, teils in spontanen Gruppen auf der Flucht oder in Begleitung von Cousin oder Onkel. In 2023 waren es bis 31. August bereits 1860 UMF.

Familiennachzug auch bei Afghanen möglich
In den zwei Jahren seit Machtergreifung der Taliban hat sich die Anerkennungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge laut Reimann deutlich geändert. Gab es zuvor bundesweit häufig nur Duldungen, so wird aktuell für 80 Prozent der jungen Menschen mit afghanischen Wurzeln ein Abschiebungsverbot ausgesprochen. Jeder Fünfte bekommt eine Flüchtlingsanerkennung. De facto allen jungen Menschen aus Syrien wird subsidiärer Schutz zugesprochen.

Diese Gruppen sowie Palästinenser aus Syrien, Eritreer und Somalier sowie vereinzelt von Genitalverstümmelung betroffenen Mädchen und Frauen aus Guinea haben dank Flüchtlingsanerkennung die Chance, ihre engsten Angehörigen über den Familiennachzug nach Berlin zu holen. Eine Flucht für alle? Auch angesichts der um ein Vielfaches gestiegenen Schlepperkosten für viele unmöglich.

Immer wieder wird Ronald Reimann danach gefragt, wie es Eltern überhaupt übers Herz bringen könnten, Sohn oder Tochter allein auf die lebensgefährliche und teils traumatisierende Flucht zu schicken. „Das kann sich von uns hierzulande wohl niemand vorstellen, wie hoffnungslos die Lage sein muss, dass man das als letzte Option macht“, sagt Reimann, selbst Vater. Er erinnert an die deutsche Geschichte, als jüdische Eltern in der Zeit des Nationalsozialismus Sohn oder Tochter über Kindertransporte nach Großbritannien und weiter in die Fremde schickten und so vor der Ermordung im KZ retteten. Bei UMF geht es heute meist um den Schutz vor Terrormilizen oder dem Einzug in Militär und Krieg.

Amtsvormünder stellen Überlastungsanzeigen
Eine entscheidende Rolle spielen erfahrungsgemäß neben Bezugsbetreuern in Wohngruppen oder vereinzelten UMF-Pflegeeltern die ehrenamtlichen Vormünder, die mehr Kapazitäten mitbringen als Amts- oder Vereinsvormünder. Für die Minderjährigen wird nach Ankunft zunächst automatisch das Landesjugendamt zuständig. Das Jugendamt Steglitz-Zehlendorf stellt berlinweit federführend jedem Kind oder Jugendlichen einen Amtsvormund, der die Elternpflichten übernimmt.

„Die Amtsvormundschaften haben die Obergrenze von 50 Mündeln pro Vollzeitstelle schon lange überschritten“, sagt Reimann. 70 bis 80 Mündel pro Person seien die Regel. Nach Tagesspiegel-Informationen sollen Überlastungsanzeigen vorliegen. Die Sprecherin der Senatsjugendverwaltung, Susanne Gonswa hält dagegen, die Amtsvormundschaft nehme „trotz hoher Mündelzahlen die gesetzliche Vertretung wahr und stellt alle erforderlichen Anträge“.

Fachleute in Sorge um die jungen Menschen
Infolge des stark überlasteten Jugendhilfesystems und des Fachkräftemangels können aber viele der meist 15- bis 17-jährigen männlichen Jugendlichen mitten in der Pubertät nicht so intensiv sozialpädagogisch, psychologisch und mitmenschlich betreut werden wie nötig, kritisieren die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege.

„Wir machen uns große Sorgen um die jungen Geflüchteten. Viele sind traumatisiert und brauchen schnell eine therapeutische Unterstützung, um langfristige Folgen zu vermeiden“, sagt Ronald Reimann.

Lange Wartezeiten, ohne dass viel passiert
Ein Kraftakt für Berlin, die Unterbringung. Und für die jungen Menschen tickt die Uhr. So warteten zum Stichtag 18. Juli 2023 genau „657 nach eigenen Angaben minderjährige Geflüchtete auf ein Erstgespräch durch das Landesjugendamt“, heißt es in der Antwort von Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU) auf eine Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Marianne Burkert-Eulitz (Grüne).

Die längste Wartezeit beträgt laut der Senatsverwaltung „circa sechs Monate“. Der anschließende Clearingprozess zu erkennungsdienstlichen Maßnahmen, Klärung zu Verwandten in Deutschland oder der EU, Anmeldung zur Registrierung bei der Ausländerbehörde, Bildung und Gesundheit dauert laut Akinda drei bis sechs Wochen. Dabei könnten erst nach dem Erstgespräch die Weichen für den Minderjährigen gestellt werden. Und erst wenn die Clearingphase, in der es auch um potenziellen Familiennachzug geht, beendet ist, werden die UMF nach einem Schlüssel an die Jugendämter der Bezirke verteilt. Doch diese finden nur noch sehr schwer Unterbringungsmöglichkeiten, so müssen sie länger im „Clearing“ verbleiben.

Bei Volljährigkeit kein Familiennachzug mehr möglich
„Die lange Dauer bis zum Erstgespräch verhindert, dass frühzeitig genau hingeguckt wird, welche Bedarfe die Kinder und Jugendlichen haben. Gerade syrische Geflüchtete brauchen schnell einen Vormund, der für sie einen Asylantrag stellt. Sie haben das Recht, ihre Eltern und Geschwister nachziehen zu lassen. Das muss aber bis zum 18. Geburtstag umgesetzt sein. Sonst erlischt das Nachzugsrecht. Hier zählt häufig jeder Monat, jede Woche“, so die Perspektive der Helfer. Am Stichtag 18. Geburtstag muss das Flugzeug mit der Familie am BER gelandet sein. Eine gesonderte Statistik zu Familiennachzügen nach Berlin gibt es nicht.

Banges Hoffen auf den Vormund
Minderjährige dürfen rechtlich nichts alleine regeln, auch nicht das Asylverfahren einleiten. Daher beantrage die Senatsjugendverwaltung bereits im Clearing den Vormund. Bis das Familiengericht ihn oder sie bestellt, dauert es laut Jugendstaatssekretär Falko Liecke „im Durchschnitt 33 Tage“. Akinda weiß von Fällen, wo ein angehendes Mündel mehrere Monate auf die Bestellung vom Familiengericht warten musste.

Das Netzwerk habe der Jugendverwaltung zuletzt vorgeschlagen, „bei allen alsbald neu Eingereisten ab dem Einreisealter 15 aufwärts sofort bei Beginn der Erstaufnahme und nicht erst mit dem förmlichen Beginn des (Vor)Clearing, eine Entscheidung zu treffen, ob durch SenBJF ein Asylantrag zu stellen ist“.

Den Artikel gibt es im Volltext bei Tagesspiegel Plus.