Eine Zusammenfassung und Stellungnahme von XENION – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte e.V.

Der gestern veröffentlichte Koalitionsvertrag der neuen Ampel-Koalition verspricht einige grundlegende Verbesserungen und Vereinfachungen im Aufenthaltsrecht und in der Versorgung von Geflüchteten in Deutschland. Politische Maßnahmen gegen die Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen und humanitäre Aufnahmeregelungen für Menschen aus Krisengebieten sind jedoch unzureichend. Im Folgenden fassen wir die relevantesten migrationspolitischen Punkte des Koalitionsvertrags zusammen, gefolgt von einer Bewertung aus unserer Perspektive als psychosoziales Zentrum.

  • Schnellere und einfachere Einbürgerung: Die Mehrfachstaatsangehörigkeit soll eingeführt werden und der Weg zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vereinfacht werden. Eine Einbürgerung soll in der Regel nach fünf Jahren möglich sein, bei besonderen Integrationsleistungen nach drei Jahren. Eine Niederlassungserlaubnis soll nach drei Jahren erworben werden können. In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern werden mit ihrer Geburt deutsche Staatsbürger*innen, wenn ein Elternteil seit fünf Jahren einen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat.
  • Besseres Bleiberecht für Jugendliche und junge Erwachsene: Gut integrierte Jugendliche sollen nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland und bis zum 27. Lebensjahr die Möglichkeit für ein Bleiberecht bekommen. Geduldete Familien können nach sechs (oder vier) Jahren ein Bleiberecht bekommen, wenn sie „besondere Integrationsleistungen“ vorweisen können.
  • Vermeidung von Kettenduldungen: Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, sollen eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können. In dieser Zeit sollen Lebensunterhaltssicherung und Identitätsnachweis erfolgen.
  • Abschaffung von AnkER-Zentren und Abschiebehaft für Minderjährige: Das Konzept der AnkER-Zentren wird nicht weiter verfolgt. Kinder und Jugendliche sollen grundsätzlich nicht in Abschiebehaft genommen werden.
  • Rückkführungsoffensive: Die Ampel kündigt allerdings auch eine Rückführungsoffensive an, um Ausreisen konsequenter umzusetzen, insbesondere die Abschiebung von Straftätern und Gefährdern. Der Bund soll die Länder bei Abschiebungen künftig stärker unterstützen und verspricht bessere finanzielle Ausstattung.
  • Mehr Rechtssicherheit für Azubis und Beschäftigte: Auszubildende können statt der Ausbildungsduldung eine Aufenthaltserlaubnis erlangen. Die Beschäftigungsduldung soll entfristet werden. Die „Duldung light“ wird abgeschafft.
  • Identitätsklärung: Die Identitätsklärung soll Voraussetzung sein, damit der Zeitraum der Duldung für ein Bleiberecht angerechnet wird. Zukünftig soll die Möglichkeit einer eidesstattlichen Versicherung von Geflüchteten zur Identitätsklärung gesetzlich verankert werden.
  • Arbeitserlaubnis für alle: Arbeitsverbote für bereits in Deutschland Lebende sollen abgeschafft werden.
  • Familienzusammenführung: Die Familienzusammenführung soll vereinfacht werden, indem beim berechtigten Elternnachzug zu unbegleiteten Minderjährigen die minderjährigen Geschwister ebenfalls nachziehen können. Beim Nachzug von Ehepartner oder Ehepartnerin kann der Sprachnachweis auch erst unverzüglich nach der Ankunft erbracht werden.
  • Gesundheitsversorgung: Der Zugang für Asylbewerber*innen zur Gesundheitsversorgung soll unbürokratischer werden. Digitale Strategien sollen die Gesundheitsversorgung verbessern. Sprachmittlung (auch mithilfe digitaler Anwendungen) soll in der medizinischen Versorgung ermöglicht werden.
  • Gleichbehandlung von Menschen ohne Papiere: Die Meldepflichten von Menschen ohne Papiere sollen überarbeitet werden, damit Kranke nicht davon abgehalten werden, sich behandeln zu lassen.

Als psychosoziales Zentrum sind wir tagtäglich mit den gravierenden Belastungen konfrontiert, die Familien, Einzelpersonen und vor allem Kinder und Jugendliche mit Fluchtgeschichte in Berlin erleben. Insbesondere die aufenthaltsrechtlichen Hürden, die jahrelangen Kettenduldungen, das Scheitern des Familiennachzugs, Rassismus-Erfahrungen und die schlechten Perspektiven auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt führen zu einer massiven psychischen Belastung von geflüchteten Menschen. In psychosozialen Zentren wie unserem mangelt es an ausreichenden Ressourcen und damit auch an Behandlungskapazitäten, so dass es zu enormen Wartezeiten auch für traumatisierte Geflüchtete kommt.

Wir kämpfen seit vielen Jahren für ihre gute psychosoziale Versorgung und deren Finanzierung. Wir befürworten daher die im Koalitionsvertrag genannten Ziele eines unbürokratischen Zugangs zu Gesundheitsversorgung, einer schnellen Integration in den Arbeitsmarkt, einer Identifizierung vulnerabler Gruppen und vereinfachten und beschleunigten aufenthaltsrechtlichen Perspektiven für viele, die hier sind. Wir hoffen, dass die im Vertrag konstatierte Notwendigkeit einer Verstetigung von psychosozialer Hilfe für geflüchtete Menschen sich in einer dauerhaften und grundlegenden Finanzierung psychosozialer Versorgungszentren niederschlagen wird.

Gleichzeitig erwarten wir eine Kehrtwende in der europäischen Asylpolitik, die von der BRD zentral mitgestaltet wird. Wir fordern ein unverzügliches Aufnahmeprogramm für Menschen aus Afghanistan und eine umgehende Bleiberechtsregelung für hier nur mit Duldung lebende Afghan*innen sowie verstetigte humanitäre Aufnahmeregelungen in Bezug zu anderen Krisengebieten sowie für Geflüchtete, die in den menschenunwürdigen Lagern an Europas Grenzen, innerhalb und außerhalb der EU,  verharren. Die im Koalitionsvertrag befürworteten Migrationsabkommen mit Drittstaaten sind Mittel der Migrationsabwehr, die wir nicht unterstützen. Wir fordern sichere und legale Fluchtwege nach Europa, um das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Wir fordern eine klare Haltung und Denunzierung der Menschenrechtsverletzungen, die etwa in Form von Push-Backs oder unterlassener Seenotrettung an Europas Außengrenzen im Sinne der Migrationsabwehr stattfinden. Die Durchsetzung einer humanitären Migrationspolitik wird sich daran messen lassen müssen, ob an den Grenzen der Festung Europa dem Sterben und Leiden ein Ende gesetzt wird.