Warum wir uns mit den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei auseinandersetzen müssen

Im Jahr 2023 wurden 61.181 Asylerstanträge türkischer Staatsbürger:innen registriert. Damit haben sich die Antragszahlen im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt – was zugleich einen Eindruck der menschenrechtlichen Situation des engen bilateralen Partners und Nato-Mitglieds vermittelt.

84 Prozent der Asylerstanträge türkischer Staatsangehöriger im ersten Halbjahr 2023 wurden von Kurd:innen gestellt. Doch die Schutzquote für sie lag im ersten Halbjahr bei nur 7%, während die Schutzquote von nicht-kurdischen Türk:innen im gleichen Zeitraum bei 70% lag. Damit haben Kurd:innen aus der Türkei faktisch kaum Chancen auf Schutz in Deutschland, obwohl das Land immer weiter zu einer autoritären Diktatur wird. (Kerem Scharmberger von medico international)

 „Es gibt nicht viel über Menschenrechte zu erzählen, weil es hier keine Menschenrechte gibt.“ (Hamdi Bayhan, Vorstandsmitglied des Menschenrechtsorganisation İnsan Hakları Derneği (IHD) in Van).

Es gibt derzeit mindestens 35.000 politische Gefangene in der Türkei. Ihre Haftbedingungen sind geprägt von Isolation und mangelndem Zugang zu medizinischer Versorgung und zu angemessener, gesunder Ernährung. Der Besuch durch Angehörige sowie der Kontakt mit ihren Anwält:innen wird häufig unterbunden; Geständnisse und sogenannte Reueerklärungen werden häufig erpresst.

Seit dem 23. November 2023 befinden sich ca. 2.000 kurdische Gefangene in Gefängnissen der ganzen Türkei im Hungerstreik. Sollte ihren Forderungen nach Freiheit für Abdullah Öcalan und nach Abschaffung von Isolationshaft bis zum 31. März 2024 nicht nachgekommen werden, soll in einen unbefristeten Hungerstreik mit Todesfasten übergegangen werden.

Nach den Kommunalwahlen 2019 wurden in den kurdischen Gebieten demokratisch gewählte Bürgermeister:innen der prokurdischen Partei HDP (heute DEM Partei) unter dem Vorwand des Terrorismusverdachts abgesetzt und Zwangsverwaltungen einsetzt. Weiterhin wurde vielen Kurd:innen, die sich zivilgesellschaftlich engagieren, willkürlich Berufsverbote erteilt. In bestimmten Städten und Regionen gilt seit 2016 der Ausnahmezustand, d.h. Demonstrationen und Kundgebungen sind verboten. Frauenrechte und LGBTIQ-Rechte wurden in den letzten Jahren drastisch eingeschränkt (u.a. durch den Austritt der Türkei aus der Istanbul Konvention), Projekte zum Schutz von Frauen werden systematisch durch die eingesetzten Zwangsverwaltungen abgebaut.

Auch die Situation von Geflüchteten in der Türkei bewegt sich im rechtsfreien Raum. Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Pushbacks in den Iran finden regelmäßig statt; ebenso werden syrische Geflüchtete gezwungen, „freiwillige Rückkehr-Erklärungen“ zu unterschreiben. Auch in diesen Fällen sind illegale Rückführungen bekannt. Fälle von Folter Geflüchteter in den Abschiebelagern sind dokumentiert; die Anwält:innen, die dies öffentlich machten, wurden angeklagt. Weiterhin ist NGOs der Zugang zu den Camps untersagt und Geflüchtete haben in der Regel keinen Zugang zu juristischer Beratung und Unterstützung. Die Liste mit massiven Verstößen gegen Menschenrechte ist sehr lang, so dass die hier genannten Aspekte nur einen kleinen Eindruck der gesamten Situation geben können.

Ebenso ist die Situation in den Erdbebengebieten nach wie vor katastrophal. Der Aufbau geht nur sehr schleppend voran und viele Menschen leben noch immer in Camps und Containern. Kinder haben weiterhin keinen adäquaten Zugang zu Bildung, die häusliche Gewalt gegen Frauen hat stark zugenommen, Kinderbetreuung kann kaum gewährleistet werden. Dennoch werden Frauen oft gezwungen, zur Arbeit zu kommen. Insbesondere ältere Menschen und Personen mit Behinderung vereinsamen in diesem Zusammenhang zunehmend; die Suizidrate der über 65-jährigen Menschen ist seit dem Erbeben signifikant angestiegen. Medizinisches Personal ist zum Teil selbst durch das Erdbeben ums Leben gekommen oder wandert aufgrund der desolaten Lage ins Ausland ab.

Delegationsreise und Fachaustausch

Vom 09.03. bis 25.03 reiste eine Gruppe von Ärzt*innen, Psychog*innen, Sozialarbeiter*innen sowie anderen Berufsgruppen initiiert durch einen Arbeitskreis der Friedensorganisation IPPNW in die Türkei und die dortigen kurdischen Gebiete.

Diese Delegationsreisen finden seit 1996 jährlich statt und seit 2019 gibt es auch Gegenbesuche der kurdischen Delegation in Deutschland. Die Mitbegründerin des Austausches Frau Dr. Gisela Penteker (IPPNW) hat seit dem letzten Jahr ein fünfjähriges Einreiseverbot in die Türkei. Sie hatte gefordert, dass die mögliche Verwendung von Giftgas durch die Türkei im Krieg gegen kurdische Kämpfer:innen durch eine internationale Kommission untersucht werden sollte.

Die Delegation bestand dieses Jahr aus Menschen, die sich bewusst dafür entschiedenen haben, nachhaltig auf die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei in Deutschland aufmerksam zu machen. Teilgenommen haben u.a. eine Kollegin von Wildwasser e.V., eine Kollegin des Berliner Zentrums für Selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen e.V. (BZSL), eine Referentin von Pro Asyl, eine ehemalige Richterin und jetzige Anwältin, Ärztinnen und in unterschiedlichen Vereinen tätige Menschen. Von XENION teilgenommen haben Christin Meuth, Psychologische Psychotherapeutin (und im Psychotherapeutischen Netzwerk von XENION tätig) sowie Dorothee Bruch, Koordinatorin für die Soziale Arbeit.

Wir bereisten dieses Jahr Istanbul, Van, Diyarbakır (kurdisch: Amed), Adıyaman und Ankara und waren in Kontakt mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, Frauenvereinen, Parteien, Gewerkschaften, demokratischen Plattformen, Umweltvereinen, Menschenrechtsstiftungen, Geflüchtetenorganisationen, sowie Anwalts- und Ärztekammern.

Zudem gab es in Amed einen Fachaustausch mit dem Schwerpunkt Prävention und Behandlung von Traumafolgen im Kontext von Krieg, politischer Verfolgung und dem Erdbeben.

Kontinuität und Nachhaltigkeit im Austausch sollen durch einen Gegenbesuch der türkischen Kolleg:innen Ende September im Berlin und Frankfurt gewährleistet werden. Wie bereits in den vergangenen Jahren sind auch in diesem Jahr Veranstaltungen und ein Fachaustausch geplant.

Einen Bericht zu der Reise wird am 14.04.um 19 Uhr im Kiezladen in der Sonnenallee stattfinden.

Gerne stehen wir für Nachfragen zu Verfügung.